Wahrnehmung: Wenn wir Dinge sehr gut können, beurteilen wir sie anders

Wie Wissen unsere Wahrnehmung verschiebt

Da habe ich letztens nach längerer Zeit mal wieder in einem Café gesessen und weil kein Tisch frei war, hatte ich einen Platz an der Bar. Nach einer kleinen Weile war ich mir nicht mehr sicher, was ich bestellen soll. Die Kaffeemaschine sah zwar gut aus, die Putzlappen daneben eher nicht. Und dann schweifte der Blick – ohne dass ich es wollte – weiter umher: die Zapfanlage klebte trotz der recht frühen Tageszeit, die Cocktailbar hatte ein Fruchtfliegen-Problem und die Kellnerin war langsam und unaufmerksam. Und dann machte der Barkeeper auch noch keine gute Figur beim Zapfen. Über 10 Jahre Gastronomie und Catering haben mich verdorben. Ich kann nicht mehr unbefangen in eine Bar oder ein Café gehen…

„Ein Experte ist eine Person, die über überdurchschnittlich umfangreiches Wissen auf einem Fachgebiet […] oder über spezielle Fähigkeiten verfügt. Neben theoretischem Wissen kann eine kompetente Anwendung desselben, also praktisches Handlungswissen für einen Experten kennzeichnend sein.“ (sagt Wikipedia)

Also bin ich auf einigen Gebieten Expertin. Und dieser Status bewirkt, dass ich viele Dinge nicht mehr einfach nur wahrnehmen kann (und genießen!). Das gilt für die Gastronomie, aber zum Beispiel auch für meinen Medienkonsum. Eine Radiomoderation wird bei mir schnell nach Kriterien bewertet, Fernsehmoderationen ebenso. Irgendwie kommt schnell eine Einsortierung in „funktioniert/funktioniert nicht“ oder „angemessen/nicht angemessen“. Auf anderen Gebieten hat sich meine Sichtweise aufgrund meiner Arbeit verschoben: dann bespreche ich Filme nach einem Kinobesuch nicht mehr nur in den Kategorien „gefallen oder durchgefallen“, sondern ich benutze Vokabular, das ich für eine Rezension verwendet hätte.

 

Verschärfte Wahrnehmung

Die eigene Erfahrung auf bestimmten Gebieten verschiebt die Art, wie ich diese Dinge bei anderen wahrnehme. Es ist wie der Blick durch ein Vergrößerungsglas oder aber als würden Handlungen in Zeitlupe vor meinen Augen ablaufen. So, dass man gezwungen ist, genau hinzuschauen. Und zu bewerten. Merkwürdig eigentlich, denn wäre es nicht viel einfacher, sich einfach irgendwo hinzusetzen und entspannt auf sein Getränk zu warten? Je genauer man aber die Abläufe kennt, umso klarer kann man Fehler identifizieren. Die Kellnerin ist also nicht nur gefühlt langsam, sondern sie macht überflüssige Wege, trägt das Tablett mit zwei Händen oder beschäftigt sich mit unnötigen Dingen wie Zuckerstreuer auffüllen.

 

Abschalten nicht möglich

Diese Art, Dinge zu betrachten, kann ich nicht einfach rückgängig machen. Ich habe es versucht: unbefangen Radio hören, eine Fortbildung besuchen, ein Bier trinken gehen. Immer kommen diese Kriterien, anhand deren ich sofort bewerte. Und mir denke „da wäre eine andere Methode besser gewesen“ oder „Ironie im Radio ist halt schwierig, zündet nicht immer“.

Wie schwer müssen es da erst andere Leute haben, bei denen es um mehr als ein gut gezapftes Bier geht? Zahnärzte zum Beispiel – von wem lassen die sich behandeln? Die Situation ist auch noch doppelt schlimm, denn während der Behandlung können sie ja nicht einmal sehen was da in ihrem Mund passiert… Und wenn sie es dann kontrollieren können und es ist nicht wie gewünscht, dann ist es ja auch übler als wenn ich zu lange auf meinen Kaffee gewartet habe.

 

Brauche ich eine neue Strategie?

Eine genaue und geschulte Wahrnehmung ist also in meinen Augen nicht per se gut. Ich denke es wäre vieles einfacher, wenn ich nicht in diesen gelernten Kategorien denken würde, bloß weil ich die Abläufe kenne. Oder übertreibe ich und es ist gut, wenn ich Dinge sehe, die andere nicht mitbekommen? Vielleicht brauche ich eine Strategie, um Dinge wieder „blauäugiger“ betrachten zu können. Es erscheint mir, als wäre das in bestimmten Situationen die einfachere Handhabung. Vielleicht nicht gerade wenn ich mich in einer Fortbildung langweilen muss, aber doch zumindest, wenn ich mal eine Minute länger auf mein Bier warte oder die Krone nicht so schön ist, als hätte ich es selbst gezapft.

Bild: Public Domain. stux, Pixabay

 

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